Neuigkeiten:

Hier gibts Infos für Einsteiger

Hauptmenü

Philosophie für Einsteiger

Begonnen von De Wolf, 15.09.2015 10:03

Vorheriges Thema - Nächstes Thema

0 Mitglieder und 3 Gäste betrachten dieses Thema.

De Wolf

#50
Hallo miteinander! Bereit für ein neues Kapitel in der Philosophiegeschichte?

Allerdings etwas anders, als vielleicht erwartet.

Denn bevor ich mich – wie versprochen - Kant zuwende, folgt hier noch ein Beitrag aus aktuellen Anlässen.

Der eine sind qd Fragen, auf die ich in diesen Tagen gestoßen bin.   Den anderen – kriegen wir etwas später...

Die erste Frage ist die: Welcher Bewegung hat die Aufklärung Vorschub geleistet? Die Anwort lautet: Dem Atheismus, also dem prinzipiellen "Nein" zur Existenz eines oder gar mehrerer "höherer Wesen".

Dabei waren ,,echte" Atheisten im 18. Jahrhundert eher selten. Weit häufiger kam es zur Kritik an der Religion. Konkret. An den klassischen monotheistischen Offenbarungsreligionen (Judentum, Christentum, Islam) und den Institutionen, die sie den Gläubigen vermittelten. 

Ein wichtiger Kritikpunkt war dabei die Behauptung, dass sie besondere Quellen (,,Heilige Schriften") besäßen, die eben deshalb besondere Glaubwürdigkeit verdienten.  :reader:

Dies wäre aber erst zu beweisen gewesen. 

Es blieb aber bei diesem Anspruch, der zudem mit Gewaltmitteln geltend gemacht wurde.
,,Willst du nicht mein Bruder sein..."  :bang:

Als qd-relevantes Beispiel mag hier die ,,Inquisition"  gelten (das  kirchenamtliche Ermittlungsverfahren durch die  Dominikaner  – genau). 
Oder die islamische Fatwa. Was ja eigentlich ,,nur" Rechtgutachten bedeutet. Allerdings  auch ein solches, durch das Kritiker und Gotteslästerer mit dem Tode bedroht wurden.  Wie das im Fall Salman Rushdies und seiner Satanischen Verse geschehen ist...

Ein Thema, das also bis heute aktuell ist und bleibt.

Denken wir an das Auftreten von fundamentalistischen Strömungen, die als einzige Formen der Auseinandersetzung mit der Außenwelt die Indoktrination oder die gewaltsame Bekehrung der ,,Ungläubigen" beherrschen...  Und im Umgang mit ihresgleichen – richtig - die ,,Alienation" – die Abschottung und Verteufelung alles dessen, was dem wahren Gläubige fremd und damit verworfen erschien...  >:(

Die Frage, die nach Aufklärung verlangt, ist also die: Wie zeigt sich der Wahrheitsgehalt einer Religion?

Oder: Wie läßt er sich – wenn überhaupt - beweisen?

:think:

Eine zukunftsweisende Antwort gibt der Schriftsteller Gotthold Ephraim Lessing. Der nicht nur philosophisch tätig ist, sondern seine Einsichten auch in Dramen verarbeitet und populär gemacht hat. Etwa in Emilia Galotti, Minna von Barnhelm und vor allem in seinem Nathan der Weise, mit dem er zugleich einem jüdischen Mitstreiter, Moses Mendelssohn, ein Denkmal gesetzt hat.

Gerade Nathan verdient hier besondere Beachtung. Dieser  ist ein ebenso reicher wie integrer  Jude in der Zeit der Kreuzzüge, der sich gegen einen Sultan in Finanznöten ebenso behaupten muss, wie gegen einen fanatischen Großinquisitor, der nur eines im Sinn hat: Diesen Juden auf den Scheiterhaufen zu bringen...  >:D

Mit der gefährlichen Fangfrage konfrontiert,  welche der drei Offenbarungsreligionen nun die Wahre ist, erzählt er die berühmte Geschichte vom Ring.
Ein Vater besitzt einen Ring, der nicht nur außergewöhnlich schön ist, sondern eine ganz besondere Ausstrahlung hat. Denn der Träger erscheint  in den Augen anderer Menschen angenehm. 
Der Vater hat diesen Ring von seinem Vater bekommen. Und es ist Tradition, dass er ihn – wenn seine Stunde gekommen ist – an seinen Lieblingssohn weitergibt. Nur - er hat drei Söhne und alle drei sind ihm gleich lieb.
Schließlich findet er eine ungewöhnliche Lösung: Er lässt zwei äußerlich absolut identische Ringe erstellen, so dass nach seinem Tod alle drei Brüder einen Ring vorweisen können. 
Jeder ist überzeugt, der Auserwählte zu sein und den richtigen Ring zu tragen. Doch wer hat Recht? So entsteht ein Streit, der die Drei schließlich zu einem klugen Richter führt.
Und der erinnert an die Geschichte des Ringes. Und gibt zu bedenken.
So unangenehm,  wie die Brüder sich aufführen,  kann keiner im Besitz des echten Stücks sein.
Denn wenn dem so wäre, würde man es doch spüren.  So aber ist auch denkbar, dass der echte Ring längst verloren gegangen ist. 
Der Gegenbeweis wäre erst zu erbringen - ganz praktisch, in wahrhaft brüderlichen Verhalten...  :hug:

Da hakt es aber gewaltig. Im Drama ebenso wie im richtigen Leben: Im Konflikt der drei so ähnlichen Religionen der Juden, Christen und Moslems.

Fazit: Mit dem bloßen Besitzanspruch ist nichts bewiesen. Eher im Gegenteil: Der Wahrheitsgehalt einer Religion zeigt sich in der A r t wie jemand diese auslebt.
Also in der positiven Ausstrahlung des Gläubigen... . 
Wenn es einen Beweis gibt, dann liegt der – wie Lessing sagt - im (richtigen)  Geist und in der Kraft (des gelebten Glaubens).
Manchem wird da auch der eine oder andere Spruch einfallen.  Es gibt nichts Gutes,  außer man tut es.
Oder: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen...

Soweit die Botschaft dieses Dramas. Das bis heute immer wieder inszeniert wurde und wird. Anfang der 1990er Jahre auch so, dass ein ziemlicher hilfloser  Nathan die Geschichte erzählt – und bei einer  bornierten bzw. fanatischen  Umgebung auf taube Ohren stößt.
Das war schon prophetisch.
Denn wer hätte damals dran gedacht, dass das neue Jahrtausend eine neue Phase der Intoleranz und der religiös motivierten Kriege bringen würde. Wo Aufklärer wieder einen ziemlichen schweren Stand haben...  >:( 

Puuuh. Wieder ziemlich tief gegraben.  Bin gespannt auf Eure Feedbacks. 
Muss nicht in diesem Board sein.
Am besten im richtigen Leben.

Wünsche Euch viele gute Gedanken und ganz viel Kraft,  wenn die Zeiten richtig dunkel werden.  :up:

Bis bald.

Euer pelzer Wolf!  :winke:
It's gotta be purrfect!

KleineWeisheit


Wow. Ich bin be-geist-ert! Jetzt werde ich mal losgehen und versuchen, zu beweisen, dass ich den richtigen Ring trage.

:-*

Not Defined

Ich fühle mich gerade in dunkelste Mittelalterstufen-Zeiten zurückgeworfen... :motz:

Kommt jetzt auch noch was über Mutter Courage, oder war die schon... :-\

Für den Beitrag:  :up:

De Wolf

#53
Zitat von: FAQ 5.0 am 14.12.2015 09:58
Ich fühle mich gerade in dunkelste Mittelalterstufen-Zeiten zurückgeworfen... :motz:

Kommt jetzt auch noch was über Mutter Courage, oder war die schon... :-\

Für den Beitrag:  :up:

Danke für das Feedback. Denke auch manchmal an die Schulzeit zurück, und an gewisse Lehrer, die auch die interessantesten Themen zu laaangweiligem Lernstoff umfunktionierten, den wir schnell lernten und genauso schnell wieder vergaßen...  Nur so kann ich mir all die blinden Flecken erklären, gerade im Bereich der Naturwissenschaften. Zum Glück war das bei den Geisteswissenschaften etwas anders. Und davon zehre ich heute noch - in jeder Hinsicht.

Mutter Courage ist natürlich auch interessant. "Der Krieg ernährt den Krieg!" so hat sie es oft gehört und verinnerlicht. Und verschließt sich bis zuletzt - als sie ihre drei Kinder verloren hat - der Einsicht, dass er der große Menschenfresser ist. Dass es eine große Schere braucht, um da doch einen Schnitt zu machen...

Müssen (junge) Leute von heute das auch erst auf die harte Tour lernen?

Ein spannender Stoff ist auch Brechts "Hofmeister", der eigentlich eine Bearbeitung (oder gar ein Plagiat) eines "Sturm und Drang" Stückes von Jakob Michael Reinhold Lenz ist.

Eine Szene ist mir noch  Erinnerung, als Studenten in ihrer Bude sitzen und einer sich reichlich philiströs Kants "Ewigen Frieden" vornimmt.

"Repetier's! Kant ist ein Dummkopf!"

Das wäre doch genauer zu überprüfen.

Bis demnächst!

Euer Pelzer Wolf!
It's gotta be purrfect!

De Wolf

#54
Heute sind wir also dran. Immanuel Kant. Schwere Kost - auch weil der Königsberger einen Schreibstil pflegt, der den geneigten Leser auf harte Proben stellt. Aber da muss mensch "durch", denn Kant ist ein Philosoph von universaler Bedeutung, der die Neuzeit entscheidend geprägt hat.

Was im folgenden zu beweisen - oder wenigsten anzudeuten wäre.

In Sam Peckinpahs Antikriegsfilm "Steiner oder das Eiserne Kreuz" gibt es eine unvergessliche Szene. An die Kubanfront kommt aus der Pariser Etappe - geschniegelt und gebügelt - der elitäre Hauptmann Stransky, dem zu seinem Soldatenglück nur das Eiserne Kreuz fehlt. Dazu soll ihm der erfahrene Feldwebel Steiner verhelfen, der das Gegenüber sofort durchschaut.
Zum Thema Elite bemerkt er, dass Kant der Sohn eines Sattlers war. Was den eitlen Offizier schwer irritiert, den schließlich geht es ihm doch - wie vielen anderen seiner Schicht - um die großen Zusammenhänge.

Hätten die Herren man ihren Kant gelesen und besser noch verstanden. Etwa seine Schrift "Zum ewigen Frieden". Hinter diesem schönen Titel  verbirgt sich  nicht etwa eine weltfremde Utopie, sondern eine Absage an Despotismus und Kriegstreiberei, die in einem Kabinett (oder im Führerhauptquartier) anfängt und im Elend der Soldaten und der Bevölkerung endet.

Dem hält Kant Gedanken entgegen, die Eingang in das moderne Völkerrecht gefunden haben. Denn auch in der Politik hat der Mensch die Pflicht, sich seines Verstandes zu bedienen, vernünftige Entscheidungen zu treffen und für Gerechtigkeit im Rahmen eines allgemeingültigen Rechtssystems zu sorgen.

"Das Recht der Menschen muss heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten."

Deutliche Worte an die Adresse der gekrönten Häupter (damals die einzig wahren "Souveräne"), für die Staaten und Völker nur Besitz und vielfach auch nur Verfügungsmasse waren.
(Ich saach mal Polen,  Lothringen oder beinahe auch unser schönes Bayernland)...

Das große Ziel verantwortlicher Politik dagegen ist die Schaffung und der Erhalt des Friedens durch allgemeingültige, völkerrechtliche Verträge.
Wobei echter Friede mehr ist als die Abwesenheit von Krieg oder die Atempause vor dem nächsten großen Kräftemessen.
Und Verträge mehr sind als Zweckbündnisse, die nach Bedarf gekündigt oder gebrochen werden können.

Wichtig ist für Kant auch der Gedanke der staatlichen Souveränität und das daraus resultierende Prinzip der Nichteinmischung. Mögen die Motive auch gut sein - der Schaden,  der durch eine solche Intervention entsteht,  wird weit größer sein als der Nutzen.

Das sind fast schon prophetische Worte, denken wir an die jüngsten Ereignisse in Afghanistan oder im Irak.

Atem und Denkpause...

Ein Beispiel wahrhaft katastrophaler Politik wäre demnach der Hitler Stalin Pakt von 1939, durch den Hitler seinen Krieg gegen Polen und die mit ihm verbündeten Westmächte erst führen konnte. Ein Vertrag der Stalin sehr ins geopolitische Konzept passte, weil er in der Folge die Kontrolle über weite Teile Osteuropas bekam.

Und das Negativbeispiel überhaupt war sicher die Geheimklausel, mit der die Aufteilung Polens vorbereitet wurde.

Ganz zu schweigen von dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion zwei Jahre später,  ohne dass das Bündnis gekündigt oder zumindest der Krieg erklärt worden wäre. 

Aber wie hätte der elitäre Hauptmann Stransky gesagt. Es geht ja um die großen Zusammenhänge. Und denen ist alles andere unterzuordnen...  Was zählen da die Gedanken, Sorgen, Hoffnungen und Erfahrungen der "kleinen Leute"...

Moment. Ich höre da was? Merkwürdig. Wird doch nicht der Sattlersohn sein , der in seinem Grab rotiert?

Fortsetzung folgt...

It's gotta be purrfect!

De Wolf

#55
Wie angekündigt folgt hier ein zweiter Teil zur Philosophie Kants. Wobei ich wieder "typische" qd Fragen zugrunde legen möchte. 

Die erste  Frage bezieht sich auf die großen Schriftsteller, die in Weimar ihre Heimat hatten. Die Antwort lautet: Goethe, Schiller und Herder. Kant gehört nicht dazu. Klar. Wobei seine Werke natürlich auch hier aufmerksam gelesen wurden.  :coffee:

Schiller war von Kants Philosophie sehr angetan,  betont aber - wie bei einem  Dichter zu erwarten ist - neben der Bedeutung der Vernunft auch Elemente wie Ästhetik ("Wahrnehmung und Wertschätzung des Schönen") und Sinnlichkeit.

Vor allem mit Kants strengem Pflichtbegriff hat er gewisse Probleme.  :-\

So schreibt er das folgende pointierte (Spott-)Gedicht:

"Gern dient' ich den Freunden,
doch tu ich's leider mit N e i g u n g.
Und es wurmt mich oft,
dass ich nicht tugendhaft bin."

Und verweist damit auf ein Problem menschlichen Handelns. Klar: Pflichten zu erfüllen ist nicht (immer) angenehm. Eher im Gegenteil. Immer wieder  gilt es da, den inneren Schweinehund zu überwinden.
Aber Neigungen sind auch nichts per se schlechtes. Sie gehören zum Menschsein dazu.
Eine Mensch wird nicht  besonders moralisch, wenn er immer nur seine Pflicht  tut und dabei elementare menschliche Wesenzüge verleugnet. 

Sympathisch schon gar nicht.  >:D

Am Besten ist es sicher, wenn wir tun,  was not-wendig ist - und tun es gerne!  :up:

Allerdings ist Kant Recht zu geben, wenn er in seinem kategorischen Imperativ vor Individualismus und Egoismus warnt.  :bang:

Ich zitiere Kant, auch wenn die Worte ziemlich sperrig sind: ,,Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde."  :reader:

Eine aktuelle Botschaft. Denn auch in unserer modernen Welt gibt es viele "allgemeine Gesetze", wo irgendwann irgendwer den Anfang gemacht hat. Gesetze, die letztlich dem Egoismus Vorschub leisten oder dazu ermutigen. Und somit dem Miteinander schaden.  >:(

Ich sage mal: "Unterm Strich zähl ich!",  "Geiz ist geil" oder "Kleidung clever kaufen..."  Und bitte Euch die Liste in Gedanken zu ergänzen...

Denk- und Atempause...  :think:

Kommen wir zur zweiten qd Frage. Was wir glauben sollen - das war für Kant kein Thema. Auch wenn er sich durchaus mit dem Glauben und der Religion befasst hat.

Aber eben - wie er es in einem Hauptwerk schreibt - "innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft".

Und mit interessanten Ergebnissen.

Denn es ist nicht ausgemacht, dass ein Mensch, der moralisch handelt, zuletzt auf eine positive Lebensbilanz zurückblickt. (Wie immer die aussehen mag.)

Es kann durchaus passieren, dass er scheitert.  :'(

Andererseits kann ein Mensch sein Leben lang dem Egoismus frönen und kommt damit durch. Schlimmstenfalls steht er sogar besser dar, als der Moralist. (Moment - warum hab ich jetzt die Prinzen im Ohr? Ach, ja: Du mußt ein Schwein sein in dieser Welt...)  :-\

Womit sich die Frage ergibt: "Warum soll ich dann moralisch handeln?"

Große Verlegenheit. Oder mit Kant gesprochen. Eine "Aporie".  :o

An dieser Stelle wird die Sache mit Gott interessant. Es braucht, damit Kants System funktioniert, ein "Höchstes Wesen". Es braucht eine letzte, übergeordnete,  moralische Instanz, die dafür sorgt dass Moral überhaupt Sinn macht.  Ok: Vielleicht  nicht  in dieser Welt - aber...  O:-)

Das ist Kants Gott. Keine Person. Eine moralische Notwendigkeit. Ein "Postulat". Für meinen Geschmack etwas trocken. Kantig eben. Aber nachdenkenswert.

Wobei die Philosophie mit Kant ja noch lange nicht am Ende ist...  Zum Glück nicht...  :))

So halte ich es auch eher mit dem Ästheten Schiller.

Ich sage mal "Ode an die Freude!"  :sekt:

Und natürlich mit Beethoven, der in der Vorbereitung seiner 9. Sinfonie die schönen Worte schreibt:

,Das moralische Gesetz in uns u n d  der gestirnte Himmel über uns.' Kant!!!

Puh. Das wär's gewesen. Zumindest für heute.

Bin gespannt auf Eure Feedbacks.

Aller...  :up:
It's gotta be purrfect!

De Wolf

It's gotta be purrfect!

De Wolf

#57
Danke für die netten Feedbacks. Auch per PN! Die ich zum Anlass nehme, noch ein paar letzte Bemerkungen zu Kant nachzuschieben.

Mir persönlich hat gerade da ein Buch sehr geholfen, das ich allen empfehlen möchte, dich sich in der Pflicht sehen, sich mit Philosophie zu informieren. Aber keine Neigung verspüren, sich durch ellenlange Wälzer durchzuarbeiten.

Lest Wilhelm Weischedels "Philosophische Hintertreppe".  :paper:

Der Ansatz ist genial. Die Hintertreppe erlaubt nämlich einen unkonventionellen und dazu amüsanten Zugang zu den großen Denkern. Man hat die Möglichkeit sie auch ganz privat zu erleben - zu erkennen,  wie Leben und Werk sich beeinflussen und ergänzen. Oder gerade nicht. 

Bei Kant wird der Gegensatz zwischen Pflicht und Neigung besonders deutlich. Kaum vorstellbar, dass dieser Philosoph mit seinem präzise durchgetakteten Tagesablauf eigentlich eher einem gemütlichen Leben zugetan war.
Dazu gehörte ein warmes Bett genauso wie die Tasse Kaffee.  :coffee:

Und die Notwendigkeit, einen Diener - den einfach gestrickten,  aber treuen Lampe - zu beschäftigen.

Von dem er sich nur schwer verabschieden konnte.

Weshalb er für sich persönlich den Imperativ formulierte.

"Lampe muss vergessen werden!" :reader:

Seltsam? Aber so steht es geschrieben. Bzw. ist es verbürgt.

Und das macht auch diesen so strengen Philosophen ein gutes Stück menschlicher. Nicht wahr?  :))

Moooment. Ist es wirklich schon 15.00h? Dann sage mich mal ganz kategorisch: Kaffee!!!

Und weiß mich mit diesem Imperativ im Einklang mit meinen innersten Neigungen. Und vielleicht juckt es mich dann ja in den Fingern, noch etwas weiterzuschreiben...

Ich saach mal Herder.

Und: Have fun.  :up:

It's gotta be purrfect!

De Wolf

#58
Wo sind wir denn heute dran? Genau. Johann Gottfried Herders Kritik an Kant.  :reader:

Die den markanten Titel trägt: "Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft."

Was doch - salopp gesagt - etwas abgedreht klingt. Um nicht zu sagen: Überkantitelt...

So stellt sich die Frage:  Will da jemand den Königsberger auf die Schippe nehmen?

Oder ihm wegen seines schwierigen Schreibstils den Spiegel vorhalten?  :-\

Eher letzteres. Herder ist Philosoph, Dichter, evangelischer Theologe und d e r  Wegbereiter der modernen Sprachwissenschaft. Und übt als solcher Kritik an Dogmatikern und abgehobenen Denkern jeder Couleur. Auch in der Philosophie.
Deshalb wagt er auch eine Auseinandersetzung mit Kant, die aber nicht sehr gut ankam.

Herders Kritik ist dabei sehr einleuchtend. Die menschliche Vernunft ist nicht von vorneherein da. (OT Kant: "a priori"). Sie muss durch Erfahrungen erworben und geschult werden.

Wobei in Sachen wahrer Erkenntnis neben der Vernunft auch die (klare) Sprache wichtig ist.

Das saß! Volle Breitseite, die allerdings an Kant abprallte. Die Kantianer sagten sich: "Was will dieser Herder?"

Oder: "Wer - bitteschön - ist Herder?"

Und es dauerte lange, bis seine Kritik verstanden und diskutiert wurde. 

Das ganze erinnert mich etwas an eine Prüfung, in der ein Professor den KandidatInnen mit seiner abgehobenen Art ziemlich zu schaffen machte.

Ein ebenso mutiger wie praktisch veranlagter Freund hat da ein Tabu gebrochen und ihn aufgefordert: "Redde sie mol Deutsch!"

Womit die Prüfung natürlich gelaufen war.

Aber das war ihm die Sache wert. Zumal das Grinsen der Beisitzer Bände sprach...  :)) :)) :))

In diesem Sinne...

Sapere Aude (lateinisch): Wage es, Dich Deines Verstandes zu bedienen! Und der Sprache dazu.

Gerade im Umgang mit (vermeintlichen) Experten...  :up:

Aller!  :winke:
It's gotta be purrfect!

KleineWeisheit


De Wolf

#60
Hallo miteinander!

Wo sind wir den heute dran?

Gute Frage. 

Bislang waren meine Beiträge ja chronologisch. Und damit wäre das 19. Jahrhundert dran.

Aber keine Regel ohne Ausnahme.

Zumal wenn eine interessante Frage auftaucht, die qd- und alltagstauglich gleichermaßen ist.

Denn heute geht es eurem Wolf um den Leviathan. Was ist der Leviathan? Ein Wesen aus der Mythologie des Zweistromlandes, das auch Eingang  in das Alte Testament gefunden hat. Ein furchterregender Drache, dem kein Mensch widerstehen kann und dessen Macht nur Gott Grenzen setzen kann.

In Babylon der Reichsgott Marduk, Sohn des Ea. In der Bibel eben - ihr wißt schon...

Das klingt noch nicht sehr philosophisch. Aber der englische Staatsphilosoph Thomas Hobbes (1588–1679) hat sich an dieser alten Geschichte bedient,  um einen Staatsentwurf zu schreiben, der es in sich hat.

Hobbes lebt in der Zeit des dreißigjährigen Krieges bzw. des parallel stattfindenden englischen Bürgerkrieges. Das bestimmt sein Welt- und Menschenbild, das zutiefst pessimistisch ist.

Seine Message: Der Mensch ist nicht gut und war es nie, auch zu Zeiten Adams und Evas nicht.

Er ist kein Gemeinschaftswesen, sondern angetrieben von Verlangen, Furcht und - na gut - manchmal auch von Vernunft. Aber auch die bringt ihn auch nur dazu zu tun, was in seinem Interesse ist.

So ist und bleibt der Mensch des Menschen Wolf. Es herrscht permanenter Krieg aller gegen alle.

Der aber doch allen schadet...

Eine Misere, aus der es nur einen Ausweg gibt.

Menschen m ü s s e n notwendigerweise zusammenfinden und gemeinsam einen Staat mit Gesetzen und Zwangsmitteln zur Durchsetzung derselben bilden.

Nur dann können sie den chaotischen Naturzustand überwinden.

Dabei genügt es nicht, dass die staatliche Ordnung vernünftig ist. Es braucht eine Macht, die die Menschen das Fürchten lehrt und sie bei Strafe  zum richtigen Verhalten zwingt.

Klingt nicht sehr erbaulich. Aber die Natur läßt keine Alternative zu. So unterwerfen sich die Menschen in einem unwiderruflichen Entschluß (Staatvertrag) ihrem "Leviathan", einem Machthaber aus ihrer Mitte, der damit zu einer quasi allmächtigen Instanz wird.

Womit Hobbes den absolutistischen Fürsten seine Zeit rechtfertigt.

Und doch von allen Seiten Beschuß bekommt.

Denn den Fürsten wird von Hobbes mit seiner pragmatischen Idee ihr Gottesgnadentum genommen. Fromme Naturen und Kichenleute sehen ihn aufgrund seines Welt - und Menschenbilders als Häretiker, als gefährlichen Irrlehrer.
Und fortschrittlichere Geister sehen in ihm einen Reaktionär, denn wenn schon ein Gesellschaftvertrag, dann bitte auf Gegenseitigkeit und mit dem (Bürger)Recht, einen Herrscher für Untaten zur Rechenschaft zu ziehen und ggf. abzusetzen.
Diesen Gedanken formuliert dann auch Hobbes Konkurrent John Locke und liefert damit das Gedankengerüst bzw. die Blaupause für den modernen Inselstaat ("Glorious Revolution").

Oder Jean Jaques Rousseau, der mit seinen Gedanken die französischen Revolution vorbereitete.

Die hat übrigens Frankreich zumindest zeitweise in Chaos gestützt, bis ein starker Mann - Napoleon - die Zügel in die Hand nahm.

Hmmm...  :-\

Braucht es also doch einen "Leviathan" um Schlimmeres zu verhüten? Zumindest zeitweise? Hat Hobbes mit Blick auf viel chaotisches und destruktives  Miteinander vielleicht doch recht? 

Oder schaffen wir es doch, unser Miteinander allen Widerständen und Herausforderungen zum Trotz freiheitlich zu organisieren?

Beispiele gibt es genug. Hier wie dort. Die Zukunft wird es zeigen...

In diesem Sinne... :up:

It's gotta be purrfect!

Not Defined


Rosi1909

Super gut geschrieben :up: :up: :up:

Es macht Spass deine Beiträge zu lesen und es bleibt auch definitiv etwas davon hängen. ;)

Danke dafür ;)
   Pferd

De Wolf

Danke vielmals für Eure Feedbacks.

:servant:
It's gotta be purrfect!

De Wolf

#64
Grüß Gott Ihr Leut(le)!  :winke:

Mit diesem Gruß möchte ich meinen heutigen Beitrag beginnen. Und zunächst einmal den Blick auf unser schönes(Schwabe)ländle lenken, dessen Bewohner - ich saach mal - einen gewissen Ruf weghaben.

So stehen sie ja gemeinhin fürs "Schaffe und's Häuslebaue" und einen sehr speziellen Frömmigkeitstyp, der ihnen in Insiderkreisen den Spitznamen "Piet Kong", die Untergrundkämpfer Gottes eingetragen hat.

Aber vergessen wir diese Klischees. Denn Schwaben ist auch die Heimat vieler Dichter und Denker, denen Deutschland unendlich viel verdankt. 

:servant:

Etwa Georg Wilhelm  Friedrich Hegel, der die neuere Philosophiegeschichte entscheidend geprägt hat und zumindestens mittelbar - über gewisse Schüler - Weltgeschichte geschrieben hat.

Was kennzeichnet nun seine Philosophie?

Hegel ist berühmt für seine Methode der Dialektik.

Wonach unsere Wirklichkeit von Gegensätzen bestimmt ist.

Eine These provoziert eine Antithese. Wobei - da wird es interessant - am Ende eine Synthese steht, in der beide auf höherer Stufe versöhnt bzw. "aufgehoben" sind.

Da klingt jetzt sehr abstrakt. Wird aber ganz gut deutlich in Hegels Biographie.
Wie er aus einer sehr frommen Schule kommend (These)
zur Philosophie findet (Antithese)
um beides dann zu einem umfassenden Gedankengebäude zu verbinden, in der alles seinen festen Platz hat.

Dafür sorgt eine "Weltseele" bzw. ein "Weltgeist", der in der Weltgeschichte am Werk ist und sich auf immer höheren Bewußtseinsstufen manifestiert. Puuuh... 

:think:

Immer noch sehr abstrakt. Dann denkt am besten an Napoleon, der in seinem Kaisertum den Gegensatz von Revolution und Monarchie aufhebt.

Weshalb ihn Hegel auch als "Weltgeist zu Pferde" bezeichnet.

Wer viel Zeit mitbringt, dem sei Hegels "Phänomenologie des Geistes" empfohlen. Schwerer Stoff, der aber zum unverzichtbaren Rüstzeug  der damaligen Studierenden gehörte.

Und der staatstragenden Schichten dazu.Denn als Hegel an die Berliner Universität berufen wird, da pilgern auch Offiziere und Staatsbeamte in Scharen zu ihm und machen ihn zu d e m Denker des modernen Preußentums.

Während er von anderer Seite massive Flak bekommt.

Denn kritische Geister, die wir heute "links" verorten,  sehen ihn ihm einen Fürstenknecht, der rückwärtsgewandtes Denken und Zensur rechtfertigt und systematisch einen neuen, braven Staatsbürger (den fiktiven aber gleichwohl realen "Biedermeier") heranzüchten möchte .

Die Kritik entzündet sich dabei an Sätzen wie dem Folgenden.

"Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig."

Und das ist ein Satz,  mit dem sich vordergründig jeder Unsinn erklären und rechtfertigen lässt.

Richtiger müsste es heißen;
Was vernünftig ist, das w i r d wirklich, und was wirklich ist, das w i r d  vernünftig.

Eben in einer weltgeschichtlichen Perspektive, in der alles auf ein großes Ziel hinausläuft.

Dem philosophischen Gegenstück zum "Reich Gottes", in dem ja auch alle Fragen ihre Klärung finden.

Aber das ist das Problem jeder  Philosophie, dass sie Gefahr läuft, die Wirklichkeit nur durch ihre eigene Brille zu sehen.

Und damit zur Ideologie wird.  :opa:

Weshalb sich der prominenteste Hegelschüler Karl Marx  mit Unterstützung eines gut betuchten Wuppertaler Fabrikantensohnes -  Friedrich Engels mit Namen - zu Wort meldet.

Und in deutlicher Kritik an seinem Lehrer schreibt.

"Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt (!) darauf an, sie zu verändern."

Und das nimmt er für sich in Anspruch. Indem er den großen Meister vom Kopf auf die Füße stellt.
Nein! Sagt er. Vergesst diesen ominösen Weltgeist.
Der Schlüssel zum Verständnis der Weltgeschichte ist die Kenntnis wirtschaftlicher Zusammenhänge.
Wie ökonomische Prozesse ablaufen und auf welches Ziel hin. 

Damit kommt Marx zu seinem zentralen Thema:

Der ewige (Klassen)kampf zwischen Besitzenden und Besitzlosen, der mit härtesten Bandagen geführt wird und letztlich dazu führt, dass sich das Kapital (so der Name von Marx Hauptwerk)
zuletzt nur noch in den Händen einiger weniger Großen befindet.

Die dann in einer finalen Weltrevolution gestürzt werden, auf die - ganz klar - eine neue Weltordnung folgt.

Die berühmte klassenlose Gesellschaft. Das Gegenstück zu - na, ja  ihr wisst schon!  :reader:

Mit dieser Vision im Gewand materialistischer Wissenschaft gerät aber auch Marx wieder unter den Verdacht, sich seine Ideologie zurechtzuzimmern - nur diesmal eben von "unten" bzw. von "links" .  >:(

Und im dialektischen Materialismus haben die weltanschaulich geschulten Marxisten - die Kader, die Nomenklatura oder einfach die "Bonzen" - ein herrliches Instrument gefunden,  ihre Welt zu erklären und Widerspruch gegen den real existierenden Sozialismus  "niederzubügeln".  :baseball:

Eine persönliche Anmerkung: Wenn ich mir das Portrait Karl Marx' ansehe, dann kommt mir Mose in den Sinn.
Wie dieser hat er etwas von einem strengen Patriarchen, der den Seinen klare Anweisungen und Ziele gibt, die besser zu befolgen sind.

Ich saach mal:  Auch der Marxismus mit seiner Religionskritik hat seine Methoden gefunden mit Abweichlern bzw. "Irrlehrern" (Häretikern) umzugehen.

Eine solche "Irrlehre"  ist der Anarchismus eines Michail Bakunin oder eines Pierre Proudhon.

Der zu Unrecht mit Chaos gleichgesetzt wird.

Anarchismus aber ist ein kritisches, subversives Element, das unverzichtbar ist, wo Regeln absolut gesetzt werden und ein freies Miteinander erschweren oder unmöglich machen.  :bang:

Aber das ist eine andere Geschichte!

Oder doch nicht? :-\

Fortsetzung folgt...
It's gotta be purrfect!

KleineWeisheit


hpg65

Der Regentag hier in Patagonien war wunderbar geeignet, die philosophischen Gedanken aufzunehmen! Danke!
Mein Fazit: Ich weiß, daß ich nichts weiß! - Und das schon länger! 😊

Gesendet von meinem SM-T535 mit Tapatalk


Sisterinheart

Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.

Wie cool ist das denn?  :up:
Team Thusmenius


[move]>:D  Oh Quizzus, oh Quizzus, gib mir meine Punkte wieder!  >:D [/move]





Not Defined


De Wolf

#69
Hallo miteinander.

Hier die versprochene Fortsetzung,  mit der ich diese kleine Einführung in die Philosophie langsam zu Ende bringe.

Die zahlreichen Klicks und PN beweisen: Es war eine spannende Lektüre.

Und qd-relevant dazu.

Auch und gerade dank vieler Anregungen, die ich von Eurer Seite bekommen habe.  :winke:

A propos Anregungen. Zum letzten Beitrag kam recht bald die Rückfrage:

Wie - bitteschön -  kann denn Anarchie funktionieren?

Ist ein anarchistisches Gemeinwesen nicht ein Widerspruch in sich selbst?  :-\

Eine gute Frage. Und ich antworte - zunächst - mit einer Gegenfrage.

Wie funktioniert denn das Gegenstück? Ein "klassisches" Gemeinwesen mit mehr oder weniger hierarchischer Struktur?  :think:

Eine Antwort findet sich bei dem antiken griechischen Philosophen Polybios, einem klugen Kopf, einem Pragmatiker der Macht mit erstaunlich modernen Ansichten. 

Der sagt nämlich: Weil Menschen Staaten bauen, ist nichts statisch. Es gibt Entwicklungen, Bewegungen und - einen Kreislauf der Verfassungen. 

Am Anfang steht ein Monarch. Der seine Arbeit vielleicht ganz anständig erledigt. Aber mit der Zeit doch "abhebt" und zum Tyrannen wird.

Das ruft Gegner auf den Plan. Mächtige Gegner,  die ihn absetzen, sich an den Tisch setzen und  und eine neue Regierung bilden. Eine - Aristokratie,  wörtlich: Eine "Herrschaft der Besten". .

Das funktioniert zunächst ganz gut. Doch dann wird aus dieser Elite eine elitäre Clique, der es auch nur um den Machterhalt und den eigenen Vorteil geht. Aus der Aristokratie wird eine Oligarchie, eine "Herrschaft weniger" zum eigenen Nutzen. (Denkt bei dem Begriff an das Oligopol, das einen Markt mit nur wenigen Anbietern bezeichnet).

Nun wird es unweigerlich zu einem Volksaufstand kommen. Und das Volk wird sich eine demokratische Verfassung geben.

Doch weil auch da viele nur den eigenen Vorteil im Auge haben, wird auf kurz oder lang eine Ochlokratie entstehen. Eine "Herrschaft des Mobs, des Pöbels", bei der es alles drunter und drüber geht.
Mit der logischen Folge, dass der Ruf nach einen starken Mann laut wird. Der dann auch kommt, die Sache in die Hand nimmt und sich zum Alleinherrscher aufschwingt.

Womit der Kreislauf von Neuem beginnt.  :'(

Das Ganze klingt irgendwie logisch und vertraut dazu - nicht wahr?  Ein typisches Beispiel ist die französische Revolution. Oder die jüngere Deutsche Geschichte. (Gut - im Einzelfall wird die Geschichte einen anderen Verlauf nehmen. Aber Polybios hat mit seiner Problemanzeige grundsätzlich recht. Nicht wahr... ?)

Aber das nur nebenbei.

Nun stellt sich die Frage. Welchen Ausweg gibt es aus einem solchen Teufelskreis?  :-\

Die Antwort ist die: Durch eine Mischform zwischen den Verfassungen. Wo demokratische und hierarchische Elemente klug kombiniert werden. Wenn ein System entsteht, in dem die staatsbildenden und - tragenden Elemente sich gegenseitig ergänzen und kontrollieren ("checks and balances" - genau!).   ;)

Das war d i e  Idee der Römer.

Und so sah denn auch ihre Verfassung aus, die dem Gemeinweisen (der res publica - der öffentlichen Sache) Jahrhunderte der relativen Stabilität beschert hat.

Und unsere Geschichte bis heute bestimmt.

Denken wir an Winston Churchill, von dem der grandiose Satz überliefert ist:

"Demokratie ist die Schlechteste aller R e g i e r u n g s f o r m e n - abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind."

Was nahelegt, dass es A n a r c h i e so nicht gegeben hat. Oder wenn, dann nur als Entwurf mehr oder weniger kluger Köpfe. Als Idee, die sich ganz gut anhört aber - in der Praxis nicht funktionieren wird.

Aber - ist das wirklich so?

Kleine Denkpause und - Fortsetzung folgt!  :coffee:
It's gotta be purrfect!

De Wolf

#70
Wer die Weltgeschichte genauer studiert, der erkennt mit Erstaunen.
Es gibt durchaus Völker mit "anarchistischen Strukturen".

Es gab Gemeinwesen, die keine Hierarchien bildeten und doch nicht im Chaos versanken.

Und ja - es gibt sie heute noch...

Vielleicht lest ihr mal den folgenden Artikel in der Wikipedia. Es lohnt sich!

https://de.wikipedia.org/wiki/Segment%C3%A4re_Gesellschaft

:up:

Ein weiteres, zudem qd relevantes Beispiel war das frühe Israel. Ein loser Verbund aus 12 Stämmen -  zusammengehalten durch das gemeinsame Bekenntnis zu dem Gott der Befreiung aus ägyptischer Knechtschaft. (Dies ist - nebenbei bemerkt - die älteste monotheistische Religion, die die Zeiten überdauert hat.)

Und natürlich durch familiäre Beziehungen, in der erfahrene Stammes- und Sippenälteste mit einer natürlichen Autorität für Recht und Ordnung sorgten.

Wo nur im Fall eines äußeren Angriffs sog. "Richter" aktiv wurden, die die Stämme vereinten, anführten und der Gefahr begegneten.

Ähnlich war es auch bei den Völkern Nordamerikas, denn die bekannten Häuptlinge (Sitting Bull, Crazy Horse u.a.)  waren Männer aus dem Volk und wurden im Kriegsfall bestimmt.

Aber kehren wir nach Europa zurück.

Michael Bakunin, der große Theoretiker  des Anarchismus,  war ein scharfer Kritiker jeglicher Hierarchie.

Und zugleich Realist was den real existierenden Menschen betrifft. Denn

,,Man setze den aufrechtesten Revolutionär auf einen Thron, und er wird zum schlimmsten Diktator."

Aber - er war kein prinzipieller Gegner von Autorität.

Er fragte allerdings nach ihrer Legitimation, nach ihrer Berechtigung. Und welchem Zweck sie dient.  :-\

"Autorität ist nur in der Form abzulehnen, in der sie erzwungen ist... Die Autorität, die ich einem Schuhmacher gebe, meine Schuhe zu reparieren, ist nicht mit Herrschaft verbunden, falls ich die Fähigkeit Schuhe zu reparieren nicht habe..."

Das steht natürlich in krassem Widerspruch zu etablierten Herrschaftssystemen in Geschichte und Gegenwart,  in denen Eliten - rechte wie linke - um Ämter und Macht schachern und sich gegen Kritik abschotten. 

Oder - ja - Demokratien, in denen Staatsdiener ihre Ämter nach Proporz und Parteibuch bekommen.

Auch in Ressorts, für die sie in keiner Weise qualifiziert sind in der Hoffnung,  dass die Richtung stimmt und die unterstellten Experten schon alles richtig umsetzen.

Denk- und Atempause.  :think:

Klar ist, dass sich die Anarchisten mit einem solchen Programm zwischen alle Stühle setzten. Dass sie nicht nur Beschuss von rechts bekamen. Sondern über der Autoritätsfrage auch Marx und Bakunin zu Gegnern wurden und ein erbitterter Bruderkrieg begann...

Fakt allerdings ist. Anarchismus ist keine bloße Theorie.  :opa:

Schon gar nicht die spezielle Form des Syndikalismus. Bei der die Arbeiter über die Produktionsmittel verfügen und Werte wie Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Solidarität wichtig sind.

Das war zeitweise durchaus ein Erfolgsmodell. Etwa im Spanien der 1920er und frühen 1930er Jahre, wo diese Bewegung Millionen Anhänger hatte. 

Zerschlagen wurde sie dann im Bürgerkrieg (1936 - 1939), der auch ein Bruderkrieg unter Linken war, denn die Kommunisten setzten alles daran,  die unliebsame Konkurrenz auszuschalten.  :bang:

Eine traurige Geschichte, die wirklich diesen Rahmen hier sprengt.

Aber immerhin ist der Syndikalismus Gegenstand einer qd Frage. Also nicht völlig vergessen.

Puuh - da habe ich wirklich sehr tief gegraben. Bin gespannt,  ob es da Feedbacks gibt.

Für's erste alles gute. Hoch die geschwisterliche Solidarität.

Aller!  :winke:
It's gotta be purrfect!

ManfredSG

Eine kleine Ergänzung.

Zwischen 1917 und 1922 organisierte sich während der Russischen Revolution eine eigenständige autonome Volksbewegung in der Ukraine - die Machnowstschina. Trotz ständiger Angriffe von Seiten der konterrevolutionären Genräle Denikin und Wrangel und trotz des Verrats durch die Bolschewisten gelang es unter der Führung von Nestor Machno eine freie Gemeinschaft in der Ukraine zu etablieren. Ein Gemeinwesen, das ohne Parteien, ohne Ausbeutung und Unterdrückung funktionierte.
Vier Jahre konnte die Bewegung bestehen, bis die Rote Armee unter Trotzki die freien Kommunen und Agrarkollektive niederschlug.

Durchaus lesenswert: Die Geschichte der Machno-Bewegung.

De Wolf

#72
Danke für Deine Ergänzung, lieber Manfred.

:servant:

Zum Thema Bruderkrieg noch ein weiteres Beispiel.

Der Kronstädter Matrosenaufstand gegen die Regierung Sowjetrusslands (1921) - von "offizieller Seite" als antisowjetische Meuterei bezeichnet. 

Die Aufständischen hatten sich im Bürgerkrieg bewährt und sahen sich berechtigt, Mißwirtschaft und diktatorische Tendenzen in der KP Russlands (KPR) zu kritisieren.

,,Alle Macht den Sowjets (Räten) – Keine Macht der Partei" war die Losung.

Das Ergebnis war klar. Der Aufstand wurde mit geballter Sowjetmacht niedergeschlagen.
Ein Strafgericht über die Stadt verhängt.
Nur wenigen Aktiven gelang die Flucht nach Finnland.

Die offizielle Geschichtsschreibung erledigte den Rest (s.o.).  Oder gerade nicht.

Das Internet zeigt sich auch hier von seiner anarchistischen Seite und bewahrt so manches vor dem Vergessen und Verdrängt-werden.

Schlagt nach - z.B. in der Wikipedia.  Oder besser noch in der - Anarchopedia (!) :up:

:winke:




It's gotta be purrfect!

Can-El

In Bayern samma sowieso für d'Anarchie - oba mit am starken Anarchen!

De Wolf

Schee gesaa(g)t. Saat de pelzer Wolf. Aus de alde linksrheinische Provinz.

:up:
It's gotta be purrfect!